Was geschah am 25. März 1920 auf der Straße von Mechterstädt nach Gotha? In diesem Artikel erfährst du mehr über einen der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der frühen Weimarer Republik. Die sogenannten „Morde von Mechterstädt“ erschütterten damals die Öffentlichkeit und warfen ein Schlaglicht auf die politischen Spannungen der Zeit. Tauche ein in die Geschichte einer Bluttat, die bis heute unvergessen bleibt.
Hintergrund: Das Studentenkorps Marburg
Das Studentenkorps Marburg (StuKoMa) wurde nach Beginn des Kapp-Putschs am 13. März 1920 mobilisiert und stellte mit etwa 1.800 Mann einen beachtlichen Teil der bewaffneten Kräfte dar. Die Mitglieder rekrutierten sich überwiegend aus den schlagenden Verbindungen der Universität Marburg, den sogenannten Korporierten. Nichtkorporierte Studenten machten zwar rund ein Drittel der Freiwilligen aus, wurden aber teilweise abgewiesen.
Aufstellung und Organisation des Studentenkorps
Die Kompanie-Einteilung des Studentenkorps Marburg richtete sich nach den Korporationen, denen die Studenten angehörten. Dies führte zu einer straffen Organisation, da die Verbindungsmitglieder bereits an hierarchische Strukturen und Disziplin gewöhnt waren. Viele der Korporierten hatten zudem im Ersten Weltkrieg als Offiziere gedient und brachten somit militärische Erfahrung mit.
Politische Einstellung der Mitglieder
Ein Großteil der Mitglieder des Studentenkorps Marburg stand der Weimarer Republik ablehnend gegenüber. Sie hofften, durch ihre Teilnahme am Kapp-Putsch eine Gelegenheit zu erhalten, die junge Demokratie zu stürzen und ein autoritäres System zu errichten. Diese republikfeindliche Haltung wurde durch die enge Verbindung zur Reichswehr und zum konservativen Bürgertum verstärkt.
„Das Studentenkorps Marburg war eine paramilitärische Formation, die sich aus überwiegend antidemokratisch gesinnten Korporierten zusammensetzte und bereit war, gegen die Weimarer Republik vorzugehen.“ – Historiker Hans-Ulrich Wehler
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Studentenkorps Marburg eine schlagkräftige Truppe darstellte, die aufgrund ihrer Zusammensetzung und politischen Einstellung eine ernstzunehmende Bedrohung für die Republik bildete. Die enge Verflechtung mit der Reichswehr und dem konservativen Establishment sollte sich im weiteren Verlauf der Ereignisse als verhängnisvoll erweisen.
Der Kapp-Putsch und die Folgen
Am Morgen des 13. März 1920 begann in Berlin der Kapp-Putsch, angeführt von Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz. Die Putschisten zwangen die rechtmäßige Reichsregierung unter Reichspräsident Friedrich Ebert zur Flucht nach Dresden und Stuttgart. Kapp ernannte sich selbst zum neuen Reichskanzler und versuchte, die Macht an sich zu reißen.
Verlauf des Putsches in Berlin
Die Putschisten konnten in Berlin schnell wichtige Regierungsgebäude besetzen und die Kontrolle über die Hauptstadt übernehmen. Reichswehrminister Gustav Noske, der eigentlich für die Niederschlagung des Putsches zuständig gewesen wäre, verhielt sich zunächst abwartend. Erst als sich Widerstände in der Bevölkerung und Teilen der Reichswehr formierten, erklärte er den Putsch für illegal.
Entscheidend für das Scheitern des Kapp-Putsches war der Generalstreik, zu dem die Gewerkschaften und die SPD aufriefen. Millionen von Arbeitern legten daraufhin ihre Arbeit nieder und lähmten das öffentliche Leben. Nach nur vier Tagen mussten Kapp und Lüttwitz aufgeben und flohen ins Ausland.
Auswirkungen auf Thüringen
Auch in Thüringen schlossen sich Teile der Reichswehr und der Freikorps dem Putsch an. Sie besetzten strategisch wichtige Punkte und verhängten den Ausnahmezustand. Doch ebenso wie in Berlin regte sich auch hier Widerstand. Vor allem die von USPD und KPD dominierte Arbeiterbewegung organisierte bewaffnete Gegenwehr.
In vielen Städten Thüringens kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Putschisten und den Arbeitern:
- In Erfurt formierte sich eine etwa 1000 Mann starke „Ordnungshilfe“ aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum, die gegen die Arbeiterschaft vorging.
- In Gotha konnte eine Sturmkompanie von ehemaligen Offizieren 300 Bewaffnete mobilisieren, um den Putsch zu unterstützen.
- In Jena riefen Arbeiter am 13. März dazu auf, die „proletarische Diktatur“ als einzigen Weg zum Sozialismus zu erkämpfen.
Nach dem Scheitern des Kapp-Putsches in Berlin dauerten die Kämpfe in Thüringen noch mehrere Tage an. Auf Befehl von Reichswehrminister Noske wurden die Arbeiteraufstände gewaltsam niedergeschlagen, wobei mindestens 250 Personen ums Leben kamen:
Stadt | Ereignis | Opferzahl |
---|---|---|
Gotha | Generalstreik, Stürmung von Fabriken und Bildung eines Vollzugsrates | mehrere Tote und Verletzte |
Mechterstädt | Erschießung von 15 gefangenen Arbeitern durch Reichswehreinheiten | 15 Tote |
gesamt | Kämpfe und Repressionen während und nach dem Kapp-Putsch | ca. 250 Tote und weit mehr Verletzte |
Der blutige Ausgang des Kapp-Putsches vertiefte die politischen Gräben in Thüringen und der Weimarer Republik insgesamt. Die Arbeiterbewegung radikalisierte sich weiter, während rechte Kräfte in Militär und Justiz unbehelligt blieben – eine Entwicklung, die letztlich den Weg für den Aufstieg der Nationalsozialisten ebnete.
Einsatz des Studentenkorps in Thüringen
In den turbulenten Tagen nach dem Kapp-Putsch wurde das Studentenkorps Marburg als Teil der Marinebrigade Erhardt nach Thüringen entsandt. Ihre Aufgabe war es, angebliche Aufstände der sogenannten „roten Armee“ niederzuschlagen und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Die Brigade Erhardt, zu der das Studentenkorps gehörte, bestand aus etwa 1.200 Mann, die in verschiedene Kompanien unterteilt waren.
Ankunft in Thal und Festnahme von Arbeitern
Am 24. März 1920 erreichten 60 Mann des Studentenkorps Marburg den Ort Thal in Thüringen. Dort nahmen sie auf Grundlage einer Liste, die ihnen vom örtlichen Gendarm übergeben wurde, etwa 40 Arbeiter fest. Diese galten als „Vertrauenspersonen der Arbeiterschaft“ und standen im Verdacht, an Aufständen beteiligt gewesen zu sein. Nach Verhören wurden 25 der Festgenommenen wieder freigelassen, während die übrigen 15 als vermeintliche Rädelsführer über Nacht im Spritzenhaus von Sättelstädt eingesperrt wurden.
Datum | Ereignis | Beteiligte |
---|---|---|
24. März 1920 | Ankunft in Thal | 60 Mann des Studentenkorps Marburg |
24. März 1920 | Festnahme von Arbeitern | 40 Arbeiter, davon 15 als Geiseln festgehalten |
Vorwürfe gegen die Arbeiter
Die festgenommenen Arbeiter wurden beschuldigt, Teil der „roten Armee“ zu sein und an Aufständen gegen die Regierung beteiligt gewesen zu sein. Konkrete Beweise für diese Anschuldigungen lagen jedoch nicht vor. Vielmehr schien es, als seien die Arbeiter aufgrund ihrer Stellung als Vertrauenspersonen der Arbeiterschaft ins Visier der Brigade Erhardt geraten.
Die Festnahmen in Thal waren der Auftakt zu den tragischen Ereignissen, die als „Morde von Mechterstädt“ in die Geschichte eingehen sollten.
Morde von Mechterstädt
Am frühen Morgen des 25. März 1920 ereignete sich auf der Landstraße zwischen Sättelstädt und Mechterstädt ein schreckliches Verbrechen. 15 Arbeiter, die zuvor vom Studentenkorps Marburg in Thal verhaftet worden waren, sollten zum Verhör nach Gotha gebracht werden. Doch dazu kam es nie.
Erschießung der 15 Arbeiter
Zwischen 5 und 6 Uhr morgens wurden die Männer in Gruppen auf der Chaussee nach Gotha erschossen. Die Opfer, im Alter von 18 bis 54 Jahren, hatten keine Chance zu entkommen. Unter ihnen befanden sich vier von sechs Gemeinderäten aus Thal, die meisten von ihnen politisch nicht aktiv. Die standrechtliche Erschießung der Arbeiter schockierte die Bevölkerung zutiefst.
Alter | Anzahl der Opfer |
---|---|
18-30 Jahre | 6 |
31-40 Jahre | 4 |
41-50 Jahre | 3 |
51-54 Jahre | 2 |
Behauptung der Studenten: „Auf der Flucht erschossen“
Die Mitglieder des Studentenkorps behaupteten später, die Gefangenen seien „auf der Flucht erschossen“ worden. Doch die Obduktion der Leichen ergab ein anderes Bild: Nahschüsse in Hinterkopf und Nacken deuteten eindeutig auf eine Hinrichtung hin. Die Aussagen der Studenten standen im krassen Widerspruch zu den Fakten.
„Die Behauptung, die Männer seien auf der Flucht erschossen worden, ist angesichts der Obduktionsergebnisse absolut unglaubwürdig. Es handelte sich eindeutig um eine standrechtliche Erschießung unschuldiger Arbeiter.“
Die Morde von Mechterstädt zeigten die Brutalität und Skrupellosigkeit, mit der das Studentenkorps gegen vermeintliche Aufständische vorging. Die Erschießung der 15 Arbeiter stellte einen Tiefpunkt in der Geschichte der Freikorps dar und sorgte für Entsetzen und Empörung in der Bevölkerung.
Juristische Aufarbeitung
Die juristische Aufarbeitung der Morde von Mechterstädt gestaltete sich als ein komplexer und umstrittener Prozess. Im Juni 1920 wurden 14 beteiligte Studenten wegen Totschlags vor ein Kriegsgericht in Marburg gestellt. Trotz belastender Beweise, wie einem Foto, das die Hinrichtung der Gefangenen durch Nahschüsse bewies, wurden die Täter freigesprochen.
Auch in der Berufungsverhandlung im Dezember und im Revisionsverfahren 1922 konnten die Angeklagten einer Verurteilung entgehen. Es tauchten Unstimmigkeiten auf, wie das mysteriöse Verschwinden des belastenden Fotos aus den Gerichtsakten und gefälschte entlastende Zeugenaussagen.
Kriegsgerichtsverfahren in Marburg
Das Kriegsgerichtsverfahren gegen die 14 Studenten fand im Juni 1920 in Marburg statt. Obwohl die Anklage auf Totschlag lautete, endete der Prozess mit einem Freispruch für alle Beteiligten. Die Verteidigung argumentierte, dass die Arbeiter „auf der Flucht erschossen“ wurden, was sich später als falsch herausstellte.
Berufungsverhandlung und Revisionsverfahren
Auch in der Berufungsverhandlung im Dezember 1920 und im Revisionsverfahren 1922 vor dem Schwurgericht konnten die Täter einer Verurteilung entgehen. Es gab Unregelmäßigkeiten in den Verfahren, wie das Verschwinden von Beweismitteln und manipulierte Zeugenaussagen, die den Ausgang beeinflussten.
„Der Fall gilt als Beispiel für die ‚Gesinnungsjustiz‘ der Weimarer Republik. Staatsanwälte und Richter gehörten oft den gleichen Verbindungen an wie die Täter und ließen sie straffrei davonkommen.“ – Historiker Hans-Ulrich Wehler
Freispruch der Täter trotz belastender Beweise
Trotz eindeutiger Beweise, wie dem Foto der Hinrichtung, blieben die Täter straffrei. Der Fall wird oft als Beispiel für die sogenannte „Gesinnungsjustiz“ der Weimarer Republik angeführt, bei der Richter und Staatsanwälte aufgrund ihrer politischen Einstellung oder Verbindungen zu den Angeklagten eine objektive Rechtsprechung verhinderten.
Datum | Ereignis | Ergebnis |
---|---|---|
Juni 1920 | Kriegsgerichtsverfahren in Marburg | Freispruch der 14 angeklagten Studenten |
Dezember 1920 | Berufungsverhandlung | Bestätigung des Freispruchs |
1922 | Revisionsverfahren vor dem Schwurgericht | Endgültiger Freispruch der Täter |
Reaktionen und Nachwirkungen
Die Morde von Mechterstädt und die anschließenden Freisprüche der Täter lösten in der Öffentlichkeit große Empörung aus. Viele sahen darin ein alarmierendes Zeichen für die republikfeindliche Haltung von Justiz und Studentenschaft. Das blutige Massaker an 15 unbewaffneten Arbeitern erschütterte die Menschen zutiefst und warf Fragen über die Rechtmäßigkeit der Urteile auf.
Öffentliche Empörung über die Morde und Justizurteile
Der Schriftsteller und Satiriker Kurt Tucholsky, der als Prozessbeobachter fungierte, verfasste als Reaktion auf die Ereignisse das bekannte Gedicht „Marburger Studentenlied“. Darin prangerte er scharf die offensichtliche Gesinnungsjustiz an: „Uns tut kein deutscher Richter nichts / und auch kein Staatsanwalte.“ Tucholskys Verse wurden zum Symbol für die weitverbreitete Entrüstung über den Justizskandal.
„Marburger Studentenlied“ von Kurt Tucholsky
Während in Thal bereits 1921 ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Ermordeten errichtet wurde, dauerte es in Mechterstädt bis 1981, bis eine Gedenktafel enthüllt wurde. In Marburg selbst vergingen sogar 99 Jahre, bis 2019 endlich eine Bronzetafel zur Mahnung an die grausamen Geschehnisse angebracht wurde. Die späte Aufarbeitung zeigt, wie schwer sich die Universitätsstadt mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte tat.